Wer nicht weiß, wohin es geht, wird unsicher. Nur wer weiß, dass er sich in einem sicheren Rahmen bewegt, kann sich auf Entdeckungsreise begeben um seine Grenzen auszuloten. Das Zugpferd, das wir dafür benötigen nennt sich Orientierung. Wer sich orientierungslos fühlt, läuft Gefahr überfordert zu werden und damit das Risiko für psychische Belastungen zu erhöhen.
Individualität als Rezept für Erfolg
Das Leben zu leben, gelingt uns mal mit mehr und mal mit weniger Zufriedenheit. Dabei gilt es auch die gesellschaftlichen Entwicklungen als bedeutsame Faktoren zu sehen. Individualität und Erfolg sind heute wichtig, werden in unzähligen Medien thematisiert und uns "vorgelebt". Doch was bedeutet es denn nun seinen eigenen Stil und seine Individualität zu leben?
Da sehen wir fitte und schicke Menschen an großartigen Orten, die sich selbst als erfolgreich präsentieren. Gleichzeitig wird Individualität und Authentizität als wesentlicher „Glücks-“Faktor angepriesen.
Wir nehmen verstärkt wahr, dass Menschen zunehmend überfordert sind, weil es eine Vielzahl von grundsätzlich positiven (oder positiv gemeinten) Ratschlägen zur gesunden, glücklichen, sinnerfüllten Lebensweise gibt, aber kaum darauf Bedacht genommen wird, ob diese Lebensweise dazu passt, wie man persönlich orientiert ist oder innerhalb welcher Rahmenbedingungen diese gelebt werden soll. Sich zu orientieren wird zunehmend schwieriger, weil die Fülle an Möglichkeiten schlussendlich überfordert. Was im Sinne der Individualität willkommen ist, birgt zeitgleich die Gefahr, den Überblick zu verlieren
Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsfindung
Aus dieser Fülle an Möglichkeiten eine Auswahl zu treffen, kann nur dann gelingen, wenn die persönliche Orientierung gefestigt ist. Das bedeutet gleichzeitig auch, mit sich selbst gut in Kontakt zu stehen, sich wahrzunehmen und achtsam mit sich umzugehen. Aktuell besteht der Eindruck, dass es zunehmend schwieriger scheint, diese persönliche Orientierung und die Verbundenheit mit sich selbst zu erleben.
Woran liegt das? Der Mensch ist mit Hilfe seiner Wahrnehmungsverarbeitung laufend damit beschäftigt, Inputs zu sortieren und zu filtern. Mitsamt den unbewussten Prozessen würde dies eine ständige Überforderung bedeuten. Dementsprechend laufen "Vereinfachungsprozesse" in unserem Gehirn, die es erlauben, rasche und intuitive (oft unbewusste) Interpretationen und Entscheidungen zu treffen und darauf aufbauend zu handeln. Die Kategorisierung der Welt, ist vielfachen Einflüssen unterlegen, wie beispielsweise der Kultur oder Sozialisierungs- aber auch Erziehungsfaktoren. Sie erlaubt uns ebendiese Reaktionen, die "energiesparend" uns befähigen, zu handeln. Dies ist vor allem wichtig in Situationen, in welchen keine Zeit bleibt, lange zu überlegen.
Aktuell gibt es die Tendenz, Kategorien völlig aufzuweichen, was teilweise Verwirrung stiftet bzw. ein Mehr an Denkleistung und somit Energie fordert. Dies ist kein Plädoyer für ein "in-Schubladen-Denken"! Denn der Mensch hat es durch kulturelle Leistungen geschafft, eben darüber hinauszuwachsen. Was allerdings, so scheint es, auf der Strecke geblieben ist, ist das Verständnis dafür, dass wir ein Mehr an Energie benötigen, um mit der entstehenden Irritation und damit einhergehender Fragen und Probleme umzugehen. Und hier schließt sich der Kreis: Dafür benötigt es Orientierung. Persönliche, aber auch gemeinsame.
Orientierung im eigenen Leben
Orientierung im psychologischen Sinne bedeutet dabei nicht, einen ganz konkreten Plan zu haben, sondern vielmehr, sich mehr oder weniger sicher ob der Richtung und der Rahmenbedingungen zu sein. Können Sie für sich beantworten, was ihre Individualität ausmacht? Eine nicht so einfache Frage. Leichter gelingt es uns da schon über unsere Lebensbedingungen Rückschlüsse auf uns selbst zu ziehen. Wann, wo und mit wem können Sie sie selbst sein und fühlen sich wohl und voll Energie? Wir erfahren über uns selbst oft auch mehr, wenn wir unsere Wünsche und positiven Erfahrungen reflektieren. Wo zieht es mich hin? Was leitet mich? Was hilft mir meinen Weg zu finden und auf diesem Weg zu bleiben?
Neben unseren persönlichen Ressourcen, Stärken und Zielen sind es oft die unterschiedlichsten Rahmenbedingungen, die uns beschäftigen, beeinflussen oder gar unsere Entscheidungen (mit-)bestimmen. Was bleibt ist die Herausforderung sich auf Neues einzulassen, aber auch die Chance selbst wirksam zu werden. Daher empfiehlt es sich, sich folgendes zu überlegen: Was entspricht mir wirklich? Was ist der sichere Rahmen, den ich brauche, um gut orientiert zu starten? Was gibt mir Sicherheit?
Orientierung bedeutet also keinen schnurgeraden Weg nach Plan, sondern eine innere Sicherheit und das Gefühl zu wissen, in welcher Gangart man in welche Richtung gehen will. Was man mitnehmen und was man beiseitelassen möchte. Fühlen Sie mal nach!
Mag.a Bettina Bickel
Mag. Bettina Bickel
Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin, Supervisorin und Coach